Zucker statt Erdöl – wie die Biotechnik die chemische Industrie erobert

Pilze und Bakterien können weitaus mehr, als Trauben in Wein oder Milch in Joghurt umzuwandeln. In der Pharmabranche haben sie sich als Wirkstoffproduzenten längst etabliert. Jetzt halten die Mikroorganismen Einzug in die chemische Industrie.

Plastiksäcke aus Maisstärke, Antibiotika gegen Blasenentzündung und Enzyme in Waschmitteln haben eines gemeinsam: Sie sind Produkte der sogenannten weissen Biotechnik, hergestellt mit der Hilfe von Mikroorganismen. Die Kleinstlebewesen erzeugen viele Substanzen schneller und umweltfreundlicher als herkömmliche chemisch-technische Verfahren. Während sie sich als Produzenten von Wirkstoffen in der Pharmabranche längst etabliert haben, nutzt die chemische Industrie ihr Potenzial erst ansatzweise.

Kompostierbare Kunststoffe

Das Paradebeispiel der weissen Biotechnik in der Chemie sind kompostierbare Kunststoffe wie die Polymilchsäure (PLA, Polylactid Acid) des amerikanischen Unternehmens NatureWorks. Dafür wird aus Maisstärke Zucker gewonnen, den Bakterien dann zu Milchsäure vergären.

Dieses einfach aufgebaute Molekül, das nach saurer Milch schmeckt und bisher im Joghurt statt im Becher zu finden war, lässt sich zu einem Biokunststoff polymerisieren. In einem Kilogramm PLA-Plastik stecken umgerechnet 2,5 Kilogramm Maiskörner. Oder anders ausgedrückt: Der Maisertrag von einer Hektare reicht für eine halbe Million Joghurtbecher.

Ebenso lassen sich Plastikgeschirr, Folien und Textilfasern aus PLA herstellen. Und auch Proteine aus Pflanzen sollen, so die Hoffnung vieler Forscher, bald genutzt werden können, um Folien und Verpackungsmaterialien herzustellen.

Biokunststoffe liegen deshalb so im Trend, weil sie fossile Ressourcen schonen. Heute ist Erdöl das Ausgangsmaterial Nummer eins für Grundchemikalien und Polymere. Zukünftig müssten nachwachsende Rohstoffe die grösste Rolle spielen, fordert Hans-Peter Meyer vom Schweizer Chemie- und Biotechnikunternehmen Lonza. Er prognostiziert, dass die Umstellung auf eine biobasierte Wirtschaft in 30 bis 80 Jahren erreicht sein wird.

So optimistisch zeigen sich nicht alle Vertreter der chemischen Industrie. Eine grundsätzliche Umstellung auf Biotechnik werde es auf absehbare Zeit nicht geben, behauptete Stefan Buchholz vom deutschen Spezialchemieunternehmen Degussa im Oktober auf einer Fachveranstaltung zur weissen Biotechnik in Frankfurt am Main. Vielmehr müsse man im Einzelfall klären, ob eine Umstellung ökonomisch und ökologisch sinnvoll sei.

Auch Stephan Freyer vom Chemieunternehmen BASF zeigte sich in Frankfurt skeptisch; nachwachsende Rohstoffe seien zu teuer verglichen mit der Erdölfraktion Naphtha, dem Ausgangsmaterial für die Petrochemie. Doch weil die fossilen Rohstoffe knapper werden und die Preise steigen, könnten die Zweifler bald ihre Meinung ändern.

Bereits jetzt schon haben grosse Chemieunternehmen einige Verfahren erfolgreich auf die Biotechnik umgestellt. Ein biotechnischer Vorzeigeprozess bei BASF ist etwa die Produktion von Vitamin B2: Dafür wird schon seit 15 Jahren der Pilz Ashbya gossypii genutzt, der Pflanzenöl in einem Schritt in das Vitamin umwandelt. Die chemische Synthese hingegen benötigt acht Stufen und verursacht 30 Prozent mehr Kohlendioxid, 95 Prozent mehr Abfall und 40 Prozent mehr Kosten.

Wenn die Biotechnik eine Variante zur Chemie bereithalte, sei sie immer die ökologisch und ökonomisch sinnvollere, sagt Meyer und nennt als ein Beispiel die Produktion von L-Carnitin, einem Trägermolekül, das Körperfette an den Ort der Verbrennung transportiert. Diese Substanz wird beispielsweise Säuglingsnahrung aus Soja und Fitness-Getränken zugesetzt.

Verglichen mit der chemischen Synthese spart der biotechnische Prozess pro Tonne L-Carnitin 180 Kubikmeter Abwasser und 4 Tonnen Abfall, der verbrannt werden müsste. Zudem produzieren die Bakterien reines L-Carnitin. Der chemische Prozess hingegen liefert die beiden zueinander spiegelbildlichen Molekülvarianten L- und D- Carnitin in gleichen Anteilen. Sie müssen aufwändig getrennt werden, denn nur L-Carnitin kurbelt die Fettverbrennung an, während die D-Form als gesundheitsschädlich gilt.

Die Biokatalyse von herkömmlichen Prozessen mit isolierten Enzymen oder ganzen Zellen ist neben der Biosynthese, der mikrobiellen Herstellung von Substanzen aus nachwachsenden Rohstoffen, das zweite Standbein der weissen Biotechnik.

Wie Biosynthesen laufen auch biokatalysierte Reaktionen oft unter milden Bedingungen ab: bei Raumtemperatur, Normaldruck und in wässrigem Milieu. Das spart nicht nur Energie und Lösemittel, sondern erhöht auch die Ausbeute, denn bei niedrigen Temperaturen entstehen generell weniger Nebenprodukte.

Oliver Thum von der Degussa-Tochterfirma Goldschmidt erläuterte dies am Frankfurter Symposium anhand der Produktion von Kosmetik-Fetten aus Rizinolsäure, der Fettsäure des Rizinusöls. Konventionell kocht man die Fettsäure dafür mit bestimmten Alkoholen und chemischen Katalysatoren bei etwa 200 Grad Celsius.

Das entspricht der Betriebstemperatur einer Fritteuse, und dem entsprechend riecht das so hergestellte Fett. Es enthält zahlreiche Neben- und Verbrennungsprodukte, ist dunkel gefärbt und muss, bevor es zu Lippenstiften und Körperlotionen verarbeitet wird, gereinigt, gebleicht und desodoriert werden.

Verwendet man dagegen als Katalysator ein Enzym aus der Hefe Candida antarctica und erwärmt die Mischung nur leicht, bildet sich ein weisses Fett, das nicht nach verbranntem Öl riecht und direkt weiterverarbeitet werden kann. Da das Enzym bei diesem Prozess fest auf einen Träger aufgebracht ist, entfällt die aufwendige Trennung von Produkt und Biokatalysator.

Mangel an stabilen Enzymen

Enzyme erleichtern nicht nur die Umsetzung von nachwachsenden Rohstoffen, sondern katalysieren auch konventionelle petrochemische Reaktionen; bei rund 5 Prozent der Chemieprodukte spielt die Biokatalyse heute schon eine Rolle. Bis 2010, schätzen Experten der Unternehmensberatung McKinsey, werde der Anteil auf 10 bis 20 Prozent steigen.

Das ist ein hoch gestecktes Ziel, zumal die Vorteile über ein gravierendes Problem nicht hinwegtäuschen können: Es mangelt der Industrie an kommerziell erhältlichen, stabilen Enzymen. Ausserdem funktionieren viele Enzyme in der Natur zwar ausgezeichnet, werden sie aber zweckentfremdet, sollen sie also künstliche Reaktionen katalysieren, sind sie oft weniger wirksam.

Mit Hochdruck suchen Forscher weltweit daher im Boden, in heissen Quellen und anderen Proben nach neuen Enzymen in Bakterien und Pilzen. Gentechniker verändern das Erbgut der Mikroorganismen und variieren so bekannte Enzyme; Roboter-gestützte Anlagen testen täglich Abertausende neue Varianten.

Dennoch, so kritisiert Meyer von Lonza, hinke die Biokatalyse noch weit hinter den gesteckten Zielen her. Von den bisher bekannten sechs Enzymklassen sei erst eine, die der sogenannten Hydrolasen, gut erforscht. Hydrolasen katalysieren die Spaltung von Molekülen unter Einbau von Wasser sowie unter bestimmten Bedingungen umgekehrt auch die Verbindung von Molekülen unter Freisetzung von Wasser – ein Beispiel ist die oben erwähnte Fettbildung aus Ricinolsäure und Alkohol.

Sollen chemische Gruppen aber anderweitig abgetrennt, umgewandelt oder in ein Molekül eingeführt werden, sind dafür Enzyme aus den anderen Klassen erforderlich. Diese aber stünden der Industrie weder zur Verfügung noch seien sie Schwerpunkt der derzeitigen Forschung, beklagt Meyer. Er ist daher überzeugt, dass nicht die Biokatalyse, sondern die Biosynthese aus nachwachsenden Rohstoffen zukünftig die wichtigere Rolle spielen werde.

Auf hohe Ausbeuten getrimmt

Was nach “Bio” klingt, unterscheidet sich von der Natur allerdings deutlich. Bakterien und Pilze produzieren viele Stoffe zwar sehr elegant, aber meist in zu geringen Mengen. Die ursprünglichen Stämme werden deshalb den Industriewünschen angepasst – früher durch Züchtung, durch zufällige Mutation und Selektion, heute meist gentechnisch. So produziert der Pilz Ashbya gossypii dank dem Eingriff in sein Erbgut ein Fünftel mehr Vitamin B2 als sein nicht genmanipulierter, aber bereits klassisch gezüchteter Vorfahre.

Als Massschneider von Mikroorganismen übt sich auch der Schweizer Spezialchemikalien-Hersteller Ciba zusammen mit dem deutschen Biotech-Unternehmen Brain. Ihr Ziel sind Bakterien, die aus Zucker Spezialchemikalien herstellen.

Brain hat aus der firmeneigenen Stammsammlung bereits einen Mikroorganismus ausgewählt, der über die gewünschten Enzyme und Stoffwechselwege verfügt. Damit die Bakterienzelle grosse Mengen der gewünschten Chemikalie, aber nur wenig Nebenprodukte produziert, greifen die Brain-Mitarbeiter zur Gentechnik.

Sie schleusen einerseits fremde Enzym-Gene in das Erbmaterial der Zelle ein, um die Bildung der gewünschten Chemikalie zu fördern. Andererseits schalten sie Gene aus und blockieren so Stoffwechselwege, die zu lästigen Nebenprodukten führen. Auch regulierende Mechanismen, welche die Zelle natürlicherweise vor Überproduktionen schützen, lassen sich so ausser Kraft setzen.

In einem Jahr, sagt Jürgen Eck von Brain, entscheide man, ob die erzielte Ausbeute hoch genug sei. Die Namen der Spezialchemikalien und des Bakteriums bleiben einstweilen Firmengeheimnis.

Rekombinante Stämme, deren Erbgut neu zusammengesetzt wurde, öffnen der Biotechnik zwar die Tür zur chemischen Industrie, stossen aber auf Ablehnung bei den Verbrauchern – auch wenn die künstlichen Zellen und das veränderte Erbgut in den gereinigten Endprodukten nicht mehr nachzuweisen sind. Lonza verfüge über rekombinante Stämme für die L-Carnitin-Produktion, setze sie aus rein markttechnischen Gründen aber nicht ein, sagt Meyer.

Dieses Problem kennt auch Richard Gamma, der Vizedirektor des Verbandes SGCI Chemie Pharma Schweiz: Manche Firma, sagt er, würde die Biotechnik gerne im großen Massstab nutzen, sehe aber die Hürden der Akzeptanz auf dem europäischen Markt.

Optimistisch zeigt sich Gamma dennoch: Die Pharmabranche habe es schliesslich auch geschafft, die Vorteile der Biotechnik herauszustreichen. Gentechnisch erzeugte Wirkstoffe erzielen international bereits 7 Prozent des Gesamtumsatzes an Arzneimitteln. Und dass, wer gentechnisch hergestellte Medikamente schluckt und sich ebensolche Impfstoffe spritzen lässt, auch die weisse Biotechnik nicht fürchten sollte, erscheint nur logisch.

Wo kommt das Futter her?

Bleibt noch ein Problem zu klären: Um Chemikalien und Enzyme herzustellen, brauchen die Mikroorganismen in den Industrie-Fermentern Futter, vor allem Zucker aus nachwachsenden Rohstoffen.

Ob die konventionelle Landwirtschaft die steigende Nachfrage danach decken kann, ist fraglich, zumal sie schon die Energieversorger mit Kraft- und Brennstoffen vom Acker beliefern soll – ganz zu schweigen vom Hunger der Bevölkerung, der zuallererst gestillt werden will.

Reichlich vorhanden aber sind Pflanzenabfälle: Getreidestängel, Holzreste, Rinde. Biotechniker und Chemiker überlegen daher bereits gemeinsam, ob und wie Mikroorganismen Plastikfolien, Kunstfasern und sonstige Produkte der Petrochemie aus einem Haufen Stroh erzeugen könnten.

(Vgl. Meldungen vom 2005-12-23, 2005-06-03 und 2005-03-09.)

Source

Neue Zürcher Zeitung vom 2005-01-11.

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