In Zukunft werden wir mehr Kunststoffe nutzen – und warum dies eine gute Nachricht ist

Michael Carus, CEO nova-Institut, im Interview mit Redakteurin Svenja Geerken, Bio-based News

Svenja: Kunststoffe stehen aktuell unter großem Druck. Sie mögen Kunststoffe aber immer noch?

19-09_Interview-Michael-Carus-biopolymersMichael: Unbedingt. Es gibt keine anderen Werkstoffe, die ein so breites Eigenschaftsspektrum aufweisen und mit höchster Effizienz in jede nur denkbare Form gebracht werden können. Hinzu kommt, dass Kunststoffe gegenüber anderen Materialien unter den meisten Nachhaltigkeitskriterien vorteilhaft abschneiden. Dies liegt zum einen an der schon genannten hohen Produktionseffizienz und z. B. an ihrer geringen Dichte, mit der sie bei Transporten punkten können. Oft können Produkteigenschaften zudem mit viel geringerem Materialeinsatz realisiert werden.

Svenja: Also ist eigentlich alles gut und die aktuelle Kunststoffhysterie entbehrt jeder Grundlage?

Michael: Mitnichten! Es gibt ganz erhebliche Probleme, die aber alle gelöst werden könnten und dringend gelöst werden müssen. Schätzungen nach gelangen weltweit etwa 20 % der produzierten Kunststoffe unkontrolliert in die Umwelt, das sind 60 Millionen Tonnen pro Jahr, davon gelangen etwa 8 Millionen Tonnen ins Meer. Der Rest bleibt an Land in Böden, Seen und Flüssen. Das ist vollkommen inakzeptabel. Das andere Problem ist die Nutzung fossilen Kohlenstoffs als Rohstoff, der am Lebensende als CO2 in die Atmosphäre entweicht. Auch das hat keine Zukunft, die gesamte chemische Industrie muss auf erneuerbaren Kohlenstoff – Recycling, Biomasse und CO2 – umsteigen.

Svenja: Für fast 80 % der Deutschen sind nach einer aktuellen Umfrage Kunststoffe eher schädlich als unverzichtbar. Können wir die genannten Probleme wirklich lösen oder sollten wir nicht doch besser auf andere Materialien ausweichen?

Michael: Aber auf welche? Die Vorräte an Metallen sind begrenzt und der Abbau erfolgt oft unter menschenunwürdigen Bedingungen. Und Mineralien? Der Sand für Zement wird bereits weltweit zum knappen Gut. Wir werden in Zukunft auch unsere Häuser nicht mehr wie heute aus Stahlbeton bauen können – sondern eher aus Kunststoffen. Denn deren Rohmaterial Kohlenstoff ist praktisch unbegrenzt verfügbar: Als CO2 in der Atmosphäre, den wir mit Hilfe von erneuerbaren Energien oder als Biomasse nutzbar machen können. Genug Rohstoff für die nächsten Jahrtausende. Dies ist der Grund, warum Kunststoffe an Bedeutung gewinnen werden und das Zeitalter der Kunststoffe gerade erst begonnen hat. Und genau deshalb müssen Kunststoffe so rasch wie möglich nachhaltig werden und ein gutes Image zurückgewinnen.

Svenja: Und wer trägt die Hauptschuld an dem ganzen Dilemma?

Michael: Die Chemie- und Kunststoffindustrie, die systematisch versucht hat, Probleme unter den Teppich zu kehren und auszusitzen, statt aktiv die Probleme aufzuzeigen und zu lösen. Wie man es von einer zentralen Zukunftsindustrie erwarten sollte!

Svenja: Was waren denn die Fehler?

Michael: Das Mikroplastikproblem ist seit mindestens zehn Jahren bestens bekannt; da erschien der Dokumentarfilm aus Österreich „Plastic Planet“. Die Industrie agiert aber nach der Devise: Ignorieren, nicht darüber schreiben, das Problem aussitzen. Die beträchtlichen Mengen an Kunststoffabfällen, die auch in der Europäischen Union unkontrolliert in die Umwelt gelangen, fehlen systematisch in den Kunststoffstatistiken. Bei hormonwirksamen Weichmachern wurden über Jahrzehnte Verbote verhindert. Bei den großvolumigen Kunststoffmüll-Exporten in Entwicklungsländer, die als stoffliches Recycling zählen, wurden die Augen geschlossen. Dabei wusste jeder Experte, was wirklich mit den Kunststoffen geschah. In der Europäischen Union werden weniger als 10 % der Altkunststoffe zu neuen Kunststoffen recycelt. Dabei sind thermoplastische Kunststoffe sortenrein gesammelt sehr gut stofflich recycelbar, besser als die meisten anderen Materialien.
Statt die eigentlichen Probleme anzugehen, wurde sie nur als „Kommunikationsprobleme“ wahrgenommen.
Und wenn die Kunststoffindustrie schläft, darf sie sich nicht wundern, wenn die EU-Kommission und die nationalen Umweltministerien die Sache nun in die Hand nehmen. Die vor kurzem verabschiedete Kunststoffstrategie inklusive der Beschränkung und Verbote von bestimmten Plastik-Einwegprodukten ist die Konsequenz aus diesem Verhalten.

Svenja: Und macht die Politik es nun besser?

Michael: Leider nicht. Natürlich gibt es sinnvolle Maßnahmen, wie das Verbot der oxo-abbaubaren Kunststoffe, die besonders schnell zu Mikroplastik zerfallen. Das Verbot bestimmter Einwegprodukte (der „Single-Use Ban“) ist reine Symbolpolitik und dazu schlechte, die wenig bewirken wird, aber eine Kunststoff-Hysterie anheizt, unnötige Produktverbote ausspricht und das Feld schlechteren Materialien überlässt – und das, ohne die wirklichen Probleme überhaupt zu tangieren!
Dabei gäbe es eine Reihe von Maßnahmen, die im großen Maßstab wirklich etwas bewirken würden: Kunststoffmüll-Exportverbote, Deponieverbote, Pflichtpfand für alle Kunststoffflaschen und alle Getränkearten, Verbot des Einsatzes von Mikroplastik und den verstärkten Einsatz hochwertiger Polymere statt Verbundsysteme, da diese einfacher zu recyceln sind (Design for Recycling). Weltweit könnten Kunststoffabfälle systematisch gesammelt und verwertet werden. Ein weltweiter Standard für den biologischen Abbau bestimmter Polymere könnte Risiken vermindern, wenn ein Entweichen in die Umwelt unvermeidbar ist. Und schließlich braucht es ein klares Konzept, wie der Umstieg von fossilem zu erneuerbarem Kohlenstoff bis 2050 erfolgen soll. Oder möchte die Kunststoffindustrie im Jahr 2050 als einer der größten und letzten Emittenten von fossilem Kohlenstoff am Pranger stehen? Als Zukunftsindustrie? Dabei würde eine Photovoltaik-Fläche von nur 1 % der Fläche der Sahara genügen, um die gesamte chemische Industrie mit erneuerbarem Kohlenstoff zu versorgen – über solaren Wasserstoff und CO2 aus der Luft.

Svenja: Was ist am Single-Use Ban so schlecht, sind denn viele Produkte nicht wirklich sinnlos oder können besser durch andere Materialien substituiert werden?

Michael: Was ist an einem Kaffee-Kunststoffrührer schlechter als an einem Holzrührer, wenn er richtig gespült oder entsorgt wird? Nichts! Im Gegenteil. Der Kunststoffrührer dürfte aufgrund seiner effizienten Produktion einen niedrigeren Carbon Footprint aufweisen und ist stofflich recycelbar. So kann aus dem Kunststoffrührer wieder ein Kunststoffrührer werden. Beim Holzrührer wird das nicht gelingen – es sei denn, Kunststoff hilft, die Holzpartikel zu binden. Dies ist nur ein Beispiel von vielen.
Will man nicht auf ökologisch schlechtere Materialien ausweichen, kommt der Single-Use Ban von Kunststoffen praktisch Produktverboten gleich. Möchten wir eine Öko-Diktatur? Ein Wettrennen um Verbote? Der eine hält Strohhalme, der andere Ballonhalter oder Kaffeekapseln für unnötig – am Ende werden wir alle viele Produkte vermissen. Wäre es nicht sinnvoller, die Bedürfnisse der Bevölkerung zu respektieren und die jeweils besten Materialen und End-of-Life-Optionen zu finden, die die geringsten Umweltauswirkungen aufweisen? In vielen Fällen sind das schon heute Kunststoffe – ob PET-Flasche, Einkaufstüte oder Verpackungen, die Lebensmittel schützen – und umso mehr zukünftige Kunststoffe auf Basis von erneuerbarem Kohlenstoff, aus mechanischem und chemischem Recycling, aus Biomasse und direkter CO2-Nutzung.
Der Single-Use Ban schürt die Kunststoff-Hysterie, aber es sind nicht Kunststoffe, auf die wir verzichten sollten. Es geht darum, Kunststoffe rasch zu einer wirklich nachhaltigen Materiallösung zu machen und umfassende Entsorgung- und Recyclingsysteme aufzubauen, die das Risiko von Kunststoffen, in die Umwelt zu gelangen und Mikropartikel zu verursachen, auf ein Minimum reduzieren. Wir haben angesichts der Rohstoffsituation gar keine andere Option. Und der Verbraucher wird lernen, dass nachhaltigere Kunststoffe teurer sein werden, aber schon heute sind knapp die Hälfte der deutschen Verbraucher dazu bereit, mehr Geld für nachhaltige Produkte auszugeben.

Svenja: Und das wird gelingen?

Michael: Ich bin da Optimist. Die Kunststoffindustrie kann aus der jetzigen Krise wie der Phönix aus der Asche neu und gestärkt hervorgehen – wenn sie jetzt ihre Hausaufgaben macht und die Probleme konsequent angeht und löst, und endlich begreift, dass es keine Kommunikationsprobleme sind!
Inzwischen gibt es erste, längst überfällige Schritte: Rund 30 führende Chemie-Unternehmen, die weltweit entlang der Wertschöpfungskette agieren, haben sich in der „Alliance to End Plastic Waste (AEPW)“ organisiert und wollen in den nächsten fünf Jahren rund 1,5 Milliarden Dollar investieren, um Projekte für Müllmanagement, zirkuläre Wirtschaft sowie neue Recycling-Technologien zu fördern.
Hersteller von Konsumentenprodukten beginnen endlich, ihre Verpackungen aus 100 % Recyclingware zu produzieren und sie vollständig recyclingfähig zu machen. Auch das gezielte Sammeln von Plastikmüll startet mit ersten Projekten. So sammeln auf Haiti die Bewohner Plastikmüll ein, dieses Jahr sollen es schon 300 t werden. Im Gegenzug gibt es von Henkel Sachleistungen wie Holzkohle zum Kochen, Voucher für den Schulbesuch der Kinder und die Möglichkeit, Handys aufzuladen, oder einfach Bargeld. Eine gute Idee, eingesammelten Plastikmüll als Rohstoff zu kaufen. Das sollte weltweit Schule machen.

Svenja: Danke für das aufschlussreiche Gespräch.

Über Michael Carus
Michael Carus (MSc) Physiker, Gründer und Geschäftsführer des nova-Instituts (www.nova-institute.eu), ist seit über 20 Jahren im Bereich der Bio- und CO2-basierten Ökonomie tätig. Schwerpunkte seiner Arbeit sind Marktanalyse, techno-ökonomische und ökologische Bewertung sowie die politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen für biobasierte Prozesse und Anwendungen („level playing field for industrial material use“).
Heute gilt Michael Carus als einer der europaweit führenden Experten und Marktforscher für die bio- und CO2-basierte Wirtschaft und insbesondere die industrielle stoffliche Nutzung von Biomasse. Er engagiert sich aktiv im Aufbau von Netzwerken in den Bereichen Land- und Forstwirtschaft, biobasierte Chemikalien und Materialien (bio-basierte Polymere, Kunststoffe und Biokomposite) sowie industrielle Biotechnologie und Bioraffinerie. Darüber hinaus ist er Mitglied in vielen Gesellschaften, Verbänden und internationalen Organisationen. Michael Carus ist als Politikberater in verschiedenen Ländern in Europa, Asien und Amerika tätig.

Source

nova-Institut GmbH, 2019-09-04.

Supplier

nova-Institut GmbH

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